Vom Ruster Amerika

von Dr. Karl-Heinz Debacher

Denkt man an den Begriff „Amerika“, so verbindet man mit ihm einen Erdteil und sucht diesen auf einem Globus oder einer Weltkarte. Nur wenige Menschen kämen auf den Gedanken, auf einer Flurkarte der Gemeinde Rust nachzusehen. Aber genau dort am nördlichen Rand der Gemarkung, an die von Kappel grenzend, liegt das Gewann „Amerika“. Zur Herkunft und Bedeutung dieses Flurnamens gibt es im Ort verschiedene Erklärungsversuche. So wird beispielsweise gesagt, dass dort die  Auswanderer des 19. Jahrhunderts nach Amerika die Boote bestiegen hätten, um auf dem Taubergießen über den Rhein nach Holland zu gelangen, von wo aus die Reise in die neue Heimat beginnen sollte. Doch ein Blick auf eine zeitgenössische Karte zeigt, dass dieser Erklärungsversuch wenig tauglich ist, denn es gibt Einstiegsstellen, die näher am Dorf liegen. Warum sollte man also an das Ende der Gemarkung fahren, wenn man es näher und bequemer haben konnte Allerdings zielt die Verbindung zu den Auswanderern in eine bestimmte Richtung, gibt es doch auch im Wald der Gemeinde Oberhausen einen so genannten Amerikaner-Schlag. Dieser Flurnamen wird darauf zurückgeführt, dass im Jahre 1854 mit dem Erlös eines außerordentlichen Holzhiebes die Überfahrt von 150 „notorisch Ortsarmen“ nach Nordamerika finanziert wurde.

Doch in Rust führt die Spur nicht zu jenen Menschen, die im Zuge der großen Auswanderungswelle Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Heimat verlassen haben, denn bereits auf einer 1828 erschienenen Rheinlaufkarte lässt sich die Bezeichnung „Nord-Amerika“ finden. Wenn also ein Zusammenhang zwischen dem Flurnamen und Auswanderungen besteht, dann weist er auf die Jahre 1816/17 hin
Dieser Spur gilt es nun zu folgen: Im Jahre 1815 hatte der letzte der napoleonischen Kriege sein Ende gefunden, der von der badischen Bevölkerung viele Opfer verlangt hatte. Die erwartete wirtschaftliche Erholung hielt nur für sehr kurze Zeit an. Bereits die Ernten der Jahre 1814 und 1815 brachten nicht den gewünschten Ertrag. Im Jahre 1816 folgte ein nass-kalter Sommer mit Dauerregen – 95 Regentage von Mai bis September. Es wird deshalb als das Jahr ohne Sommer bezeichnet und ist bis heute das kälteste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Im August setzte der Frost ein, der Rhein trat über die Ufer und überschwemmte weite Gebiete. Das Wasser vernichtete die noch ausstehende Ernte und verwüstete die Felder. Was übrig blieb, zerstörte furchtbarer Hagelschlag.
Die Zeitgenossen führten diese eigentümliche Witterung auf einen Kometen zurück, der im Jahre 1811 erschienen war. Erst 1920 fand man die Ursache des Katastrophen-Sommers: Der Vulkan Tambora auf der Insel Bali war im April 1815 mit immenser Wucht ausgebrochen – man schätzt mit der Sprengkraft von 170.000 Hiroshimabomben – und hatte dort 50 000 Todesopfer gefordert. Die Staubteilchen wurden auf der Erde verteilt und verursachten im Jahr darauf den Schneesommer, wie er auch genannt wurde. Die Abkühlung des Weltklimas hielt noch bis 1819 an.

Die Folge dieser Klimakatastrophe waren fürchterliche Missernten. Diese brachten vor allem für die Armen schrecklichen Hunger und große Not, so dass bereits im Sommer 1816 den Menschen öffentlich der Verzehr von Wurzeln empfohlen wurde. Vor allem die Graswurzel, ein Unkraut, das besser bekannt ist als Quecke oder Zweckwurzel, eigne sich wegen ihres Zuckergehaltes besonders als Nahrungsmittel.
Das Elend führte vielerorts schon im November 1816 – so auch in Lahr – zur Gründung von Fonds zum Kauf von Nahrungsmitteln für die Not leidende Bevölkerung. Im März 1817 rief die badische Regierung einen allgemeinen Wohltätigkeitsverein ins Leben. Im April wurde das Schnapsbrennen aus Kartoffeln und die Ausfuhr von Schlachtvieh sowie von Mehl, Getreide und Kartoffeln unter schwerer Strafe untersagt. Die Gemeinden errichteten Suppenanstalten und verabreichten unentgeltlich Suppen an  die Ärmsten. Die Suppenanstalt Lahr hat im April täglich rund sechs Ohm zubereitet und ausgeteilt. Das sind immerhin 900 Liter!

Angesichts dieser großen Not verließen viele Menschen hoffnungslos die Heimat, zogen verführt durch geriebene Schwindler und verbrecherische Agenten in eine unbekannte Welt hinaus, vorwiegend nach Amerika. Die von Hunger und Elend gehetzten Leute verkauften ihr Hab und Gut um eine „Schnitz und eine Bohn“, verließen fluchtartig ihre Verwandten, ihr Elternhaus, ihre Heimat und trieben einem trügerischen Schicksal entgegen. Scharenweise erfolgten die Auszüge. 16 bis 20 000 Badener sollen zur großen Reise aufgebrochen sein.

Darunter waren mindesten 50 bis 60 Ruster, also rund 3,5 % der damals 1600 Einwohner, wie wir aus den im „Wochenblatt für Lahr und Offenburg“ im Frühjahr 1817 erschienenen Liquidations-Ausschreibungen erfahren können. Diese Liquidation war die Auflösung des Vermögens und die Tilgung der Schulden. Wer Auswandern wollte, war gesetzlich verpflichtet seine Schulden zu begleichen. Seine Schuldenliquidation wurde deshalb im genannten Amtsblatt bekannt gegeben, damit die Gläubiger ihre Forderungen zum fest gesetzten Termin geltend machen konnten. Wer allerdings den Termin versäumte, blieb auf seinen Forderungen sitzen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Zahl derer, die sich zur Ausreise bereit machten, die weit überstieg, welche uns durch die Ausschreibungen bekannt wurde. Vom Juni 1817 an nahmen die Liquidationen ab und hörten schließlich fast ganz auf, denn es stand eine gute Ernte in Aussicht. Der Auswanderungstaumel hatte sich gelegt, zumal im Mai die badische Regierung die Auswanderungen verboten hatte.


Vielen gelang das Wagnis, allerdings unter unsäglichen Mühsalen, Leiden und Gefahren. Zahllose starben unterwegs im Elend, aber einige Tausend kehrten wieder. Sie waren entweder schon auf der Reise nach Holland von ihren Agenten betrogen worden oder waren in Amsterdam Gaunern in die Hände gefallen und hatten so ihr Geld verloren. Viele waren aber auch entgegen aller Warnungen ohne ausreichende Mittel für die Überfahrt nach Amsterdam gekommen, weil sie dem Gerücht aufgesessen waren, man könne ohne Bezahlung der Frachtkosten von dort nach Amerika gelangen und bräuchte die Fahrt erst nach zwanzig Jahren zu bezahlen.

Alle diese bedauernswerten Menschen kehrten mittellos und ärmer als zuvor wieder in die Heimat zurück. Vermutlich handelte es sich dabei mehr um einzelne Personen, als um Familien. Letztere kamen nicht so schnell zurück; manche brauchten Jahre, um ihre Heimat wieder zu erreichen. Die Regierung nahm sich ihrer an, indem sie ihnen die Orte bestimmte, in denen sie Halt machen und die Zeit wie lange sie dort zubringen durften. Die Heimatgemeinden taten, was sie konnten, um die Not der Zurückgekehrten zu lindern. Als nun in Rust die Ausgewanderten wieder anrückten, mittellos, von allem entblößt, verteilte die Gemeinde ein Landstück am Rande der Gemarkung unter sie zur Urbarmachung und Bebauung: Deshalb also trägt dieses Gewann bis heute den Namen Amerika. Dort steht auch heute noch ein schlichtes Holzkreuz, das ebenfalls schon auf der Karte von 1828 verzeichnet ist und vermutlich mit dieser Auswanderung in Zusammenhang steht.

Manche Auswanderer waren vor dem Auszug in der Eile und bei der allgemeinen Geldknappheit nicht alle Liegenschaften losgeworden. Sie waren jetzt froh, diese „Rampen“ noch ihr eigen nennen zu können. Das frühere Bürgerrecht aber wurde ihnen nicht wiedergegeben, wenn nicht der größte Teil der Gemeinde es ausdrücklich forderte. Es wurde ihnen nur die Stellung als Schutzgenosse eingeräumt und viele führten Jahrzehnte hindurch das Dasein armer Leute.

Quellen:Gall, Wolfgang M.: Armut, Wein und Zinsen. Offenburg 1991: S. 71f.Sattler, Emil: Die Hungersnot von 1816 und 1817 und die damit verbundenen Auswanderungen nach Amerika. In: Die Pyramide 1917.Staatsarchiv Freiburg: K 155/2 Nr.1Mannheimer Morgen, 22.10.2003www.wetter.com